M.I.A.

Matthias erzählt, dass Coldplay die weltweit erfolgreichste Band des vergangenen Jahres gewesen sei. Nichts gegen Coldplay, das ist nicht meine Musik, aber in ihrem Genre sind die vier Herren wohl schon in Ordnung. Pathosschwangerer Gitarrenpop fürs Stadion, formale Ambitionen, inhaltlicher Goodwill, Indievergangenheit, Mainstreamappeal, da kann man nichts gegen sagen. Man muss es ja nicht hören.
Das Problem ist, dass man Coldplay anscheinend sehr wohl hören muss. Immer. Überall. Ich steige ins Flugzeug, lande nach ein paar Stunden in Kiew und höre: Coldplay. Ich fliege weiter nach Chişinău, betrete die Ankunftshalle, und aus den Lautsprechern dröhnt: Coldplay.
Ist das denn so? Hört man überall auf der Welt das Gleiche? Eigentlich doch nicht. Schon in Russland machen westliche Bands keinen Stich, und Russland ist nicht unbedingt ein anderer Kulturkreis. Türkei, Lateinamerika, Afrika, Japan: Überall sind Coldplay nur eine Band unter vielen Exotismen, lokal hört man anderes. Ganz anderes. Das Gerede von den Weltstars Coldplay aber ebnet diese Vielfalt ein, sorgt für einen steten, immer gleich klingenden Sound des Mainstream. Und verschleiert, dass es solch einen Mainstream gar nicht gibt. Das ist im Interesse der Musikindustrie: Was wäre es praktisch, gäbe es tatsächlich Stars, die sich global vermarkten ließen, man könnte Budgets auf ein Minimum eindampfen, weil ohnehin überall der gleiche US-amerikanisch-britisch-europäische Sound läuft. Merkt irgendjemand, dass diese Sehnsucht nach einem weltumspannenden Einheitssound von den gleichen Leuten frmuliert wird wie die Behauptung es gebe weltweit keine Alternative zur westlichen Pseudodemokratie auf Basis von Kapitalismus und christlichem Menschenbild?
Das mag ich so an der französischen Popszene: Dass die multikulturelle Gesellschaft hier nicht zu einem Einheitsbrei zermatscht, sondern in all ihren Brüchen abgebildet wird. Als wild-anarchische Bricolage aus Chanson, arabischen und nordafrikanischen Klängen, HipHop. Das nervt mich an der Nouvelle-Chanson-Szene: Dass hier ein Stil durchgesetzt wird, der stockkonservativ traditionelle Chansons mit britischem Indierock und US-amerikanischen Songstrukturen kreuzt, ohne auch nur einen Schritt weiter zu denken. Aber Frankreich ist nah, es bedarf keiner allzu großen Anstrengungen, um festzustellen, dass es hier noch viel mehr gibt außer Benjamin Biolay.

Leider kommt man an die Vielfalt der internationalen Sounds nur schwer ran. Es geht ja nicht um die folkloristische Ödnis von Weltmusik, es geht darum, zu hören, was im Senegal, in Thailand und in Montenegro an Popmusik gehört wird. Und dafür bracht man Gatekeeper: Indielabels, die leider auch nichts anderes machen als ein britisches Indieverständnis weltweit durchzuprügeln. Im Ergebnis bekommt man dann grauenhafte Bands wie Vampire Weekend, die ganz kalkuliert Afrobeat mit Indierock kreuzen. Buäh.

M.I.A. aka Mathangi Arulpragasam aka மாதங்கி அருள்பிரகாசம் ist das positive Pendant zu Vampire Weekend. Gebürtig in London, aufgewachsen in Sri Lanka, lebt heute nomadisch. Grenzen: unwichtig. M.I.A. mischt HipHop mit Bollywood mit Indie mit cheesy Pop aus allen Ecken der Welt, sie ist klug, sensibel, aggressiv, politisch naiv, extrem, durchdacht, heftig, prollig, intellektuell. Geht alles. Dazu passt, dass M.I.A. nicht nur Popmusikerin ist, sondern auch anerkannte Bildende Künstlerin, was man nicht zuletzt an ihren kunstvollen Videos (hier: Jimmy aus dem wunderbaren zweiten Album "Kala" (2007)) merkt. Grenzen? Fuck it.

Dass Pop eine nomadische Struktur hat: kein ganz unwichtiges Fazit.

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Aus der Bandschublade

Die Bandschublade war einmal ein Musikblog. Es ging um Bands, die mir einmal wichtig waren. Bands, die ich vergessen habe. Bands, die mir ein bisschen peinlich sind. Bands, zu denen ich grundsätzlich mal etwas sagen wollte. Bands, die ich heute immer noch gerne höre. Die Bandschublade ist heute: Ein Blog über alles und jedes. Ein Blog über Kunst und Kultur. Ein Blog über Politik. Ein Blog über das Leben in der Stadt. Ein Blog über mich und dich und uns. Und auch ein Musikblog, immer noch. Kommentare sind im Rahmen der üblichen Freundlichkeitsgepflogenheiten erwünscht, natürlich.

Der Autor

Falk Schreiber, Kulturredakteur, Hamburg / Kontakt: falk (dot) schreiber (at) gmx (dot) net / Mehr im Web: Xing, Facebook und Myspace

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