Harz Vier (Gehen)
Foto: Bernd Völkel
Wandern ist uncool. Wer einmal die Nacht auf einer Berghütte verbracht hat, versteht auch, weswegen: Beim Wandern macht man sich gemein mit unangenehmen, reaktionären, alten Männern, man singt sexistische Lieder, man erhebt sich chauvinistisch über andere, man begrüßt sich am Gipfel mit "Berg Heil!".
Andererseits: Wer einmal eine Reise im Ferienflieger nach Mallorca mitgemacht hat, macht ähnliche Erfahrungen, und dennoch ist ein Urlaub auf Mallorca nicht uncool. Die Erkenntnis hat sich durchgesetzt, dass Mallorca nur in den Tourismusburgen uncool ist, das Hinterland aber ist ein Traum, und den Ferienflieger muss man eben auf sich nehmen, zweieinhalb Stunden lang, um sich direkt nach der Landung von den Uncoolen abzusetzen. Und ebenso ist auch die Berghütte nur Mittel zum Zweck: Da muss man durch, leider. Aber zu tun hat man nichts mit den Sexisten, den Chauvinisten, den Uncoolen, die im Matratzenlager nach Bier stinken, nach Selbstgerechtigkeit und nach tagelang nicht gewechselter Unterwäsche.
Da muss man durch, um später ein Glücksgefühl zu haben. Einen Fuß vor den anderen zu setzen, nicht mehr zu sprechen, irgendwann: nicht mehr zu denken. Über Stunden keinen anderen Menschen mehr zu sehen, durch den Wald, über Wiesen, später dann über bloßen Stein. Sind wir noch auf dem richtigen Weg? Weiter. Gehen.
Es geht nicht um den Gipfel. Achtermann, 926 Meter über Null, ein Witz: Wenn man einem Bergsteiger erzählt, dass man den dritthöchsten Berg Niedersachsens erklommen hat, der lacht einen doch aus. Es geht nicht um Höhenmeter, es geht nicht um schöne Aussichten, es geht auch nicht um irgendeine erbrachte Leistung, einen anstrengenden Aufstieg oder eine spektakuläre Klettereinlage oder einen kulturhistorisch bedeutenden Wanderweg. Es geht nur noch ums: Gehen. Einen Fuß vor den anderen. Einsamkeit. Spüren.
Im Wanderführer zu La Gomera steht, dass man eine Gegend erst dann richtig kennengelernt hat, wenn man sie erwandert hat. Das stimmt. Der Wanderer nimmt den Charakter der Landschaft in sich auf, durch die Muskeln, durch die Fußsohlen. Weil er auf der Wanderung mit der Landschaft alleine ist, mit ihr atmet, mit ihr horcht. Das ist so ähnlich wie mit Städten: Man lernt eine Stadt auch nicht dadurch kennen, dass man eine Stadtrundfahrt im Touristenbus macht. Die Stadt lernt man dadurch kennen, dass man sich in die Straßenbahn setzt und bis zur Endhaltestelle durchfährt. Dass man sich in eine langweilige Kneipe setzt und ein Bier trinkt, und dann noch eines. Dass man durch Wohngebiete schlendert, ohne Ziel.
Das Ziel der Wanderung ist der Wald. Das modrige Holz, die Schneereste auf dem Weg, der Wind, der durch die kahlen Bäume jagt. Das Ziel ist nicht der Achtermann: Auf dem Achtermann warten sie doch schon wieder auf mich. Die Uncoolen.
zahnwart - 23. Mai, 12:29