Sonntag, 8. November 2009

Kindergeschichte

Über Weihnachtsmärchen im Theater kann man so oder so denken. Auf der einen Seite: Das Theater schafft für die nachfolgende Generation überhaupt einen ersten Kontakt mit der Bühnenkunst. Das Theater holt Geld rein um die knappen Etats zu entlasten, weil das Haus monatelang mit Schulklassen, Sportvereinen und Jugendgruppen ausgebucht ist. Und: Märchenspiel kann aus Theatersicht unglaublich viel hergeben. Das ist das eine. Das andere: Der Theaterbetrieb ist über Monate lahm gelegt. Und: Weihnachtsmärchen sind häufig kein dramaturgisch kluges Kinder- und Jugendtheater, Weihnachtsmärchen sind häufig bloße Unterhaltung, zwischen öder Niedlichkeit, Effekthascherei und biederer Moral angelegte Pflichtübung, die nichts mit den echten Problemen von Kindern zu tun hat.

Zumindest letzteren Schuh muss sich das Hamburger Schauspielhaus nicht anziehen. "Krabat", "Tintenherz" und aktuell "Pünktchen und Anton" mögen in mancher Hinsicht kritisierbar sein, falsche Schonung tun sie ihrem Publikum voller Schrecken und Abgründigkeit nicht an. Aber: Blieben "Krabat" und "Tintenherz" mit ihrer märchenhaften Handlung allgemein, ist Kästners "Pünktchen und Anton" in einer ganz klaren sozialen Situation verortet: Im Berlin der 20er. Die handlungsprägende Schere zwischen Arm und Reich ist weit geöffnet, da können die Kinder des Jahres 2009 gut ihre eigene Umgebung mit Kopfpauschale und Hartz IV wieder erkennen.
Regisseurin Katharina Wienecke aber rettet sich in die Weimarer Republik. Die Figuren tragen Schiebermütze und Zylinder, Juliane Koren berlinert als dicke Köchin Berta herzerweichend, und neben mir fragt ein ungefähr sechsjähriger Junge seine Mutter, wieviel man denn am Theater verdiene: "Ist das mehr als Papa?" Die Mutter lacht: "Nein, das ist viel weniger." Gut, es braucht nicht viel, um mehr als ein Schauspieler zu verdienen, trotzdem ist es bezeichnend, dass hier selbst kleine Kinder das Haushaltseinkommen zum Distinktionsgewinn nutzen.
Überhaupt, diese Kinder: Ausstaffiert im Kostümchen, im Anzug mit Krawatte und Fliege, frisch gefönt werden sie von Mutter, Au Pair und Kindermädchen ins Schauspielhaus geführt. Was hat das, was sie hier zu sehen bekommen, mit ihrem Leben zu tun? Hoffentlich nichts, die Regie schiebt es schon weit genug in die Vergangenheit, auf dass niemand auf die Idee kommen möge, dass der eigene Reichtum etwas damit zu tun habe, dass es anderen nicht so gut geht.

Ich habe Angst vor diesen Kindern.

Aus der Bandschublade

Die Bandschublade war einmal ein Musikblog. Es ging um Bands, die mir einmal wichtig waren. Bands, die ich vergessen habe. Bands, die mir ein bisschen peinlich sind. Bands, zu denen ich grundsätzlich mal etwas sagen wollte. Bands, die ich heute immer noch gerne höre. Die Bandschublade ist heute: Ein Blog über alles und jedes. Ein Blog über Kunst und Kultur. Ein Blog über Politik. Ein Blog über das Leben in der Stadt. Ein Blog über mich und dich und uns. Und auch ein Musikblog, immer noch. Kommentare sind im Rahmen der üblichen Freundlichkeitsgepflogenheiten erwünscht, natürlich.

Der Autor

Falk Schreiber, Kulturredakteur, Hamburg / Kontakt: falk (dot) schreiber (at) gmx (dot) net / Mehr im Web: Xing, Facebook und Myspace

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