Sonntag, 20. Juni 2010

Nein, Liebste, das hat nichts mit uns zu tun

Manchmal, in langen Beziehungen, springt man zur Seite, grundlos. Beziehungsweise, natürlich gibt es einen Grund: Man hat einfach Lust auf etwas Neues. Man ist gelangweilt vom immergleichen Glück. Man möchte etwas erleben, was man noch nicht in- und auswendig kennt. Man möchte die Gelegenheit bekommen, einen Fehler zum ersten Mal zu machen. Man möchte etwas ausprobieren, selbst auf die Gefahr hin, dass es nicht funktioniert. Man möchte irgendwann wieder zurückkommen, sich unter Tränen eingestehen: Es hat wirklich nicht funktioniert, hier war es viel schöner, lass es uns noch einmal versuchen, bitte.

Man kann sich nicht wehren. Wenn es passiert, dann passiert es. Und schuld daran hat niemand.

Was ich eigentlich sagen möchte: Die Bandschublade zieht um. Zu Wordpress. Vielleicht nur für ein paar Tage, vielleicht für immer. Regelmäßige Leser sollten ihre Bookmarks aktualisieren, bis auf weiteres läuft alles wie gewohnt weiter, nur eben unter http://bandschublade.wordpress.com/.

Und ansonsten bleibt natürlich aktuell: Was die Bandschublade sein könnte.

Samstag, 19. Juni 2010

Richtersprüche

Daniel Richter zieht um. Nun gut, es ist noch keine Nachricht, dass ein geschätzter zeitgenössischer Maler nach Berlin zieht. Überhaupt, dass Daniel Richter ein Hamburger Künstler sei, war ohnehin ein großes Missverständnis: Seine Galerie sitzt in der Hauptstadt, er hat dort eine Wohnung und ein Atelier, seine Sujets findet er eher in Berlin als in Hamburg. Bemerkenswert ist, wie Daniel Richter seinen Abschied aus der Hansestadt inszeniert: als Generalabrechnung. In einem Interview mit dem Zentralorgan bräsig-selbstgefälligen Hanseatentums, dem Hamburger Abendblatt, wirft Richter der zweitgrößten Stadt Deutschlands kulturpolitisches Totalversagen vor. Schauspielhaus, Kunsthalle, Galerien: allesamt bestenfalls Kreisklasse.

Mir ist es egal, wo Daniel Richter wohnt, ob seine Bilder in Hamburg entstehen oder in Berlin oder in Oberammergau, ist mir wurscht. Außerdem mag ich Berlin, und eine spannende Ausstellung ist allemal ein Grund, ein Wochenende in der Hauptstadt zu verbringen. Was mir mehr fehlen wird, ist das charmante Theater Fleetstreet von Richters Frau Angela, dessen Zukunft in den Sternen steht: Theater ist im Gegensatz zu Bildender Kunst ortsgebunden, in Zukunft werde ich weinen, wenn ich durch den ehemaligen Fleetstreet-Standort Admiralitätsstraße gehe. Aber wen interessiert, wenn ich weine?
Was allerdings schon interessant ist, ist Richters Befund über die Hamburger Kultur: "Alle, die künstlerische Ambitionen haben, sind in Berlin. Nach Hamburg kommt einfach niemand mehr", sagt der Maler im Abendblatt-Interview. "Die großen Häuser hier liegen am Boden. Schauspielhaus und Kunsthalle, verglichen mit Kampnagel und Kunstverein - da liegen Kampnagel und Kunstverein eindeutig leider vorn." Was Richter allerdings verschweigt (und dass hier nicht nachgefragt wurde, sagt viel über das journalistische Niveau des Abendblatts aus), ist: Auch in Berlin sind die großen Kulturinstitutionen nicht gerade Weltspitze. Die Staatlichen Museen - in ihrer Größe gefangen, unfähig zu wichtigen Einzelausstellungen. Das Deutsche Theater - nach einem halbherzigen Start auf dem Weg in die Irrelevanz. Die Volksbühne - heillos zerstritten. Der Unterschied zu Hamburg ist: In Berlin gibt es einen kreativen Humus, in Berlin gibt es aktive, sich ständig neu erfindende Galerien, in Berlin gibt es, das vor allem, Geld für künstlerische Basisarbeit. Dass so ziemlich jeder junge Theatermacher direkt nach seinem Abschluss nach Berlin zieht, liegt a) an den immer noch konkurrenzlos günstigen Mieten b) an der Tatsache, dass hier lauter Gleichgesinnte leben, mit denen man gemeinsam Projekte angehen kann und c) am Hauptstadtkulturfonds. Ohne solche Fördermöglichkeiten lässt sich avancierte junge Kunst hierzulande schlicht nicht realisieren. Jemand wie Daniel Richter hat solch eine Förderung nicht mehr nötig - aber wer will es ihm verdenken, dass er gerne Leute um sich hat, die solch eine Förderung sehr wohl nötig haben?

Wenn man sich diese Förderungskanäle anschaut, wird deutlich, dass die Frage nach einem individuellen Wohnort ganz schnell eine politische Frage geworden ist. Die Gesellschaft stellt es jungen Künstlern nicht mehr frei, nach Berlin zu ziehen, wenn sie möchten - sie zwingt junge Künstler, nach Berlin zu ziehen. In der Kulturszene entwickelt sich gerade ein Zentralismus, wie man ihn nicht einmal aus dem Parisfixierten Frankreich kennt (wenn man davon absieht, dass gerade die französische Kulturpolitik mittlerweile den anderen Weg geht und bevorzugt Projekte in den Regionen fördert). Das war schon einmal anders. Es gab einmal den Aufstieg des Bochumer Schauspielhauses zum wichtigsten Theater der Republik, es gab Pina Bausch in Wuppertal, vorbei, heute nicht wiederholbar. Das war alles zu Zeiten von Willy Brandt, da ging es darum, mehr Demokratie zu wagen, und Ausdruck dieser unaufgeregten Demokratie war ein ausgeprägter Föderalismus, nicht zuletzt in kulturellen Fragen. Heute ist alles anders, wir sind wieder wer, und Berlin ist am Meisten.

Und das ist Deutschland hier.

Montag, 14. Juni 2010

Bedways



Okay, Filme über Sex, das ist so eine Sache. Weil Film eine optische Geschichte ist, die ihre strukturelle Nähe zum Voyeurismus nie verleugnet, steht im Film gezeigter Sex immer im Verdacht, pornografische Verfahrensweisen anzuwenden. Das ist nicht schlimm (aber langweilig), wo ein Film sich dieser strukturellen Nähe bewusst ist, das ist entsetzlich schwiemelig, wo ein Film im Gegenteil diese Verfahrensweisen anklagen möchte.
Natürlich kann sich der Regisseur retten. Indem er Sex ausspart, den Sex quasi hinter dröhnendem Schweigen versteckt. Am elegantesten machte das Richard Linklater 1995 in "Before Sunrise", bloß irgendwohin brachte einen das nicht. Oder aber der Film wird bewusst explizit, Arthouse Porn. Bei "9 Songs" funktionierte das 2004 ganz gut, weil der Michael Winterbottom damals mit entwaffnender Ehrlichkeit Sex und laute, exzessive Rockmusik parallel schaltete. Wenn man allerdings nicht mehr an die exzessive Kraft der Rockmusik glaubt, dann ist "9 Songs" auch nur ein Porno mit konventionell gefilmten Livemusikpassagen dazwischen, schad'.

RP Kahls "Bedways" ist da konsequenter, weil Kahl das Problem, einen Film über und mit Sex zu drehen, zum Thema seines Films macht. Eine junge Regisseurin verschanzt sich mit einem Schauspieler, einer Schauspielerin und rudimentärem Drehinstrumentarium in einer leeren Altbauwohnung. Gefilmt wird Sex, der zwar zunehmender Drehdauer immer echter wirkt, gleichzeitig aber in einer Gegenbewegung Pornographie immer ähnlicher wird. Am Ende steht ein gemeinsamer Orgasmus, ironischerweise in den Masturbationszellen eines Schwulenclubs, vor Kamera und Bildschirm. Gefilmter Sex ist eine Leerstelle, und diese Leerstelle umkreist Kahl mit seinem Film.
Natürlich darf man solche Filme von Herzen hassen: die gekünstelten Dialoge, den Kunstanspruch, die forcierte Abgefucktheit des Settings. Man darf aber auch mal einfach konstatieren, dass Kahl zumindest das Problem erkannt hat. Dass er sich diesem Problem verhältnismäßig ungeschickt nähert, ist nicht schön - eine Alternative gibt es aber meiner Meinung nach nicht.

Freitag, 11. Juni 2010

Wir Nazienkel

Politische Psychologie ist eine eigenartige Disziplin. Politische Psychologie erklärt das, naja, spezielle Verhältnis der jüngeren deutschen Linken gegenüber Israel, und zwar nach dem Prinzip: Wir haben uns so intensiv mit den Untaten unserer Großväter auseinander gesetzt, wir haben uns so leidenschaftlich von ihnen distanziert, dass wir Israel mit aller Härte kritisieren dürfen. Ohne Rücksicht auf Verluste.
Klingt blödsinnig, aber vielleicht ist ja was wahres dran. Dass eine linke Gruppe aus dem "Internationalen Zentrum B5" eine (durchaus umstrittene) Filmvorführung im Hamburger Kino B-Movie dadurch torpediert, indem sie die Kinobesucher einen improvisierten Checkpoint passieren lässt und nichtmal merkt, was es im Kontext Israel für Bilder weckt, wenn Deutsche Andersdenkende durch einen Stacheldrahtverhau treiben, das ist schon ein starkes Stück.
In der "Welt" erklärt Maler Daniel Richter diese grauenhaft aus dem Ruder gelaufene Inszenierung mit der oben skizzierrten Politischen Philosphie: "(...) an Israel will man etwas beweisen. Man will beweisen, dass man mindestens genauso gut ist wie der Gegenüber. Vielleicht sogar besser. Man will die eigene moralische Überlegenheit demonstrieren. Die Kinder der Nazis wollen gerechter sein als die Juden, um den Juden beweisen zu können, dass diese mit der Staatsgründung Israels genauso Verbrecher geworden sind wie die Nazis." Der (mittlerweile zu diesem Artikel nicht mehr zugängliche) Kommentarbereich haut (wie in den Kommentaren der Welt üblich) Richters differenzierte Analyse über den Haufen und lässt die rechte Volksseele hemmungslos wüten: Die Linken sind die wahren Antisemiten, rechte Antisemiten gibt es eigentlich gar keine. Was historisch natürlich Blödsinn ist, aber historisch firm sind Welt-Leser bekanntermaßen grundsätzlich nicht.

Das ist die eine Seite. Die andere ist die: Muss ich, nur weil ich Deutscher bin, mir meiner historischen Verantwortung bewusst bin und die Politische Ästhetik der "Warum Israel"-Blockade unerträglich finde, die israelische Politik grundsätzlich gut finden? Denn es gibt nicht nur die Linke, die sich vor Hamburgerb Kinos unmöglich macht und so zumindest auf der optischen Ebene eine Verbindung zum Faschismus herstellt, es gibt beispielsweise die Antideutschen, die als reflektierte Nazienkel jede politische Frage mit der Frage verknüpfen, was das jeweilige Thema mit ihrer bedingungslosen Solidarität mit Israel zu tun hat. Was ganz eigene Koalitionen zur Folge hat: Antideutsche etwa waren im Irakkrieg pro Bush, weil Bush laut dieses verqueren Weltbilds gegen den Irak war und der Irak erklärtermaßen gegen den Staat Israel war.
Ohnehin ist Philosemitismus heute im Gegensatz zur Weimarer Republik eher rechts zu Hause: Der Springer-Verlag etwa hat die Solidarität mit Israel an prominenter Selle in seinen Unternehmensgrundsätzen festgeschrieben.

In seinem Verhältnis zu Israel kann man als durchschnittlicher linker Nazienkel demnach eigentlich nur alles falsch machen. Entweder man positioniert sich eindeutig Anti-Israel, dann steht man plötzlich in faschistischer Ästhetik vor Kinos rum und bekommt womöglich noch Applaus von Altnazis, die schon immer der Meinung waren, dass Opa vor 70 Jahren seinen Job einfach nicht gut genug gemacht hat. Oder aber man gibt sich pro-israelisch und findet sich über die Solidaritätsschiene plötzlich mit Rechtskonservativen im gleichen Bett wieder. Differenziert sein kann man nicht, und da haben wir wieder die Fallstricke der Politischen Psychologie. Die Logik sagt: Ja, man muss Israel vernünftig kritisieren können. Aber, leider, Psychologie ist nicht logisch.

Nein, ich weigere mich, beim Ship-to-Gaza-Zwischefall ausschließlich auf die israelische Berichterstattung zu vertrauen. Ich glaube grundsätzlich, dass es nicht nötig ist, eine hochgerüstete Militäreinheit ein Massaker veranstalten zu lassen, weil sie von Terroristen (?) mit Waffen wie Stahlknüppeln (!) angegriffen werden.
Doch, ich glaube, dass die israelische Bevölkerung ein Recht auf friedliches Leben in einem eigenen Land hat. Und ich denke auch, dass es historisch begründbar ist, dieses Land in der Gegend des heutigen Staates Israel anzusiedeln.
Nein, ich habe meine Zweifel an der Tauglichkeit der Zwei-Staaten-Lösung. Wie sollte ein eigenständiger Palästinenserstaat überlebensfähig sein? Unabhängig von Israel, das wird schon geographisch schwierig. Die einzige Möglichkeit für einen Palästinenserstaat wäre eine Achse Gaza-Damaskus-Teheran - und die können weder Israel noch die USA wollen.
Überhaupt, die USA. Ich würde nie behaupten, dass der Staat Israel ein Produkt der USA wäre. Aber: Den USA kommt es sehr gelegen, mit Israel einen eindeutig westlich orientierten Verbündeten im Nahen Osten zu haben. Und, tut mir leid, als jemand der die Rolle der USA in der Welt mehr als kritisch betrachtet, habe ich bei dieser Konstellation Bauchschmerzen, zumal Israel als einziger Staat Atomwaffen besitzt.

Über diese Punkte würde ich mir gerne Gedanken machen. Klappt nicht. Meine Psyche steht mir im Weg, wieder mal.

Donnerstag, 3. Juni 2010

Eine kleine Geschichte des Nationalismus

Als dann klar war, dass Lena Meyer-Landrut den Eurovision Song Contest gewonnen hatte, da stotterte die sympathische junge Frau etwas atemloses in die Kamera, während von hinten jemand kam und ihr eine Deutschlandfahne in die Hand drückte. Die sie im folgenden mehr oder weniger unmotiviert mit sich rumschleppte, ihren harmlosen Song ein weiteres Mal sang und mit dem nationalen Symbol, das von nun ab an ihr hing, augenscheinlich fremdelte.
Am Folgetag dann gab Meyer-Landrut eine Pressekonferenz in Oslo, und sie gab sie auf Deutsch. Weil Deutschland ja auch gewonnen habe. Wir waren befremdet, ließen es ihr aber durchgehen. Westerwelle, übrigens, ließen wir das gleiche nicht durchgehen, warum eigentlich? Gleichzeitig tauchten Bilder auf, auf denen Meyer-Landrut grölte, "Ich liebe deutsche Land", einen Schlager, halbironisches Pidgin-Deutsch, na gut, dachten wir, der Alkohol! Das Testosteron! Ach!
Und seither sehen wir Meyer-Landrut nicht mehr ohne Schwarzrotgold. Sie fremdelt nicht mehr. Jetzt ist sie doitsch, endgültig.
Das Marxblog hat übrigens sehr hübsch dokumentiert, wo dieses Doitsche zur gleichen Zeit hinführte. Es ist widerlich: Die dünne Schicht Zivilisation und Kultur ist in diesem verabscheuungswürdigen Land so brüchig, es braucht nur eines marginalen Anstoßes, eines Schlagerwettbewerbs, dass sie verschwindet. Ich hoffe inständig, dass Doitschland bei der Fußball-WM sehr, sehr früh ausscheidet, echt.

(Und bei Gelegenheit schreibe auch mal wieder was sinnvolles. Über Israel und Gaza. Oder so.)

Sonntag, 30. Mai 2010

Lena Müller-Lüdenscheid, äh, Dings

Da hat also eine junge Frau einen Schlagerwettbewerb gewonnen, mit einem Song, der nicht besonders originell war aber nett, mit einer Stimme, die nicht besonders variabel war aber eigenwillig, mit einem Auftritt, der nicht besonders spektakulär war aber sympathisch. Lena Meyer-Landrut, 19 Jahre, aus Hannover, ist die Gewinnerin des Eurovision Song Contest 2010, Herzlichen Glückwunsch auch.

"Satellite", der Siegersong, ist harmloser Pop, sparsam instrumentiert, halbwegs up-to-date, bei Licht betrachtet ein recht dreister Kate-Nash-Ripoff, warum auch nicht, ist egal. Das ist nicht wichtig, wichtig ist der Hintergrund, für den Lena Meyer-Landrut steht, das gute, undogmatische Bürgertum, aber auch: eine Jugendlichkeit, die vollkommen selbstverständlich mit Medien umgeht. Manche behaupten, dass Meyer-Landrut sich konsequent den Medien verweigert hätte, aber das stimmt so nicht: Sie hat mit den Medien gespielt, aber zu ihren Bedingungen, nicht zu den Bedingungen der Medien. Sie trat schon vor ihrer Sängerinnenkarriere im Fernsehen auf, als Komparsin bei diversen Trashformaten im Privat-TV, das war nicht schön, aber es war selbstbestimmt. Meyer-Landrut steht für Medienkompetenz, wie sie vor zehn Jahren noch unvorstellbar war: Wer heute 19 ist, hat eine große Auswahl an Möglichkeiten, auf dem Bildschirm zu erscheinen, und wenn er tatsächlich nicht von einer Redaktion ausgewählt wird, dann dreht er eben selbst einen Youtube-Clip. Lena Meyer-Landrut weiß um diese Möglichkeiten, und sie weiß auch die Gefahren, die drohen, wenn man die Möglichkeiten nutzt. Wenn sie sich verweigert, wenn sie bockig "Nöööööt!" quäkt, auf eine RTL-Frage zu ihrer Familie, dann ist das keine jugendliche Unbekümmertheit, wie ihr oft attestiert wird, dann ist das auch keine Arroganz, das ist ein Schutzmechanismus. Der nicht immer einwandfrei funktioniert, aber dennoch verhältnismäßig zuverlässig ist.
Schön auch, dass Meyer-Landrut mit bestimmten Medien grundsätzlich nicht redet, namentlich: der Bild. Das liegt nicht nur an ihr, das liegt auch an ihrem Mentor Stefan Raab, über dessen Einfluss auf Lenas Medienverhalten nur spekuliert werden kann - ich nehme an, er ist riesig. Raab spricht ebenfalls nicht mit Bild, Raab pocht auf sein (meiner Meinung nach nicht unproblematisches) Recht, Privates vollkommen abzuschirmen. Aber: Es ist schön, wenn jemand einen Massenerfolg hat, ohne mit Springer zu paktieren. Und wenn jemand lieber mit arte spricht als mit RTL, dann ist das auch sympathisch.

Traurig allerdings: Meyer-Landrut mag sympathisch sein, sie ist in keiner Weise mehr Camp. Und eigentlich mochte ich den Eurovision Song Contest, diese bei Licht betrachtet entsetzlich öde Veranstaltung, doch in erster Linie wegen ihres Camp-Charakters. Vorbei, nicht nur bei Meyer-Landrut. Überhaupt war dieser Abend geprägt von Understatement und nicht von unfreiwillig überbordenden Gefühlen, von pathetischen Orchestern, von wilden Kostümorgien inclusive reißender Schärpen. Einzig der Isländische Marianne-Rosenberg-Abklatsch versuchte da noch ein wenig mitzuspielen, leidlich erfolglos (der Song war aber auch arg lieblos). Und wenn man Hape Kerkeling, der immerhin noch die deutsche Juryentscheidung per Videoeinspielung übermitteln durfte) als schwules Klischeebild einordnen möchte, dann bildet Stefan Raab das heterosexuelle Gegenstück zu diesem Klischee.
Und Meyer-Lanrut? Die steht für eine nette, selbstbestimmte, leicht widerborstige Sexualtät jenseits aller Klischees. Bei ihr wird nicht getuckt, nicht geschmachtet, bei ihr wird geflirtet, und wenn man eine Abfuhr bekommt, dann können beide drüber lachen.

Nicht dass mir das unangenehm wäre - im wahren Leben ist mir solch ein ironisch-abgeklärter Umgang mit Sexualität weitaus lieber als ausgestellte Schwuppenästhetik. Aber ein wenig schade finde ich es doch, dass mit dem Sieg des Anti-Camp-Modells Lena eine Kultur recht mitleidslos ins Abseits geschoben wird: die des Schlagers als explizit schwule Camp-Veranstaltung.

Ich verlinke "Satellite" hier nicht. Weil die Herren von Raabs Firma Brainpool ohnehin alles schnell wieder löschen lassen (und damit beweisen, dass sie zwar Ahnung von klassischem Marketing haben, nicht aber von viralen Formen.
Außerdem verweise ich auf das
tolle Liveblogging der geschätzten Lukas Heinser und Stefan Niggemeier auf oslog.tv.

Mittwoch, 26. Mai 2010

Ich, ich, ich

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Foto: Aino Laberenz

Christoph Schlingensief ist, auf jeden Fall, ein Guter. Ein Kunstkopf, einer, der begeistert ist von ästhetischen Mechanismen, ein sprühender Geist, den man nicht anhalten kann, nicht einzwängen, nicht formieren. Der sich, während er heißläuft, immer wieder selbst in Frage stellt, immer wieder von neuem. Der ist ein Guter.

Ein Guter, der ganz tief drin steckt im europäischen Theaterestablishment, das allerdings auch. Auf Kampnagel war die Deutsche Erstaufführung seines Projekts "Via Intolleranza II", Uraufführung war kurz davor beim Kunstenfestivaldesarts in Brüssel, demnächst gibt es noch Aufführungen in der Bayerischen Staatsoper München und bei den Wiener Festwochen, Dramaturg der Produktion ist Helene Hegemanns Vater Carl, Kostümbildnerin Schlingensief-Gattin Aino Laberenz. Das ist kein Problem, nur: dass Schlingensief seine Verknüpfung in diese Strukturen nicht problematisiert, wo er doch sonst alles problematisiert, das fällt schon auf.

Aber egal, wir sprechen über das konkrete Kunstwerk, wir sprechen über "Via Intolleranza II", ein Projekt nach Luigi Nonos Oper "Intolleranza 1960". Bei Nono geht es um die Desillusionierung eines (eigentlich unfreiwillig) revolutionären Bergarbeiters, bei Schlingensief geht es um die Desillusionierung einer (nicht unsympathisch) weltverbessernden Kulturbetriebsnudel. Nämlich so: Seit 2009 werkelt Schlingensief an seinem Projekt "Festspielhaus Afrika" in Burkina Fasos Hauptstadt Ouagadougou, einer Mischung aus Wagnerianischer Kunstideenarchitektur und konkreter Entwicklungshilfe, die nach Fertigstellung ein Opernhaus, Kunstschulen und Wohnungen beinhalten soll. "Via Intolleranza II" ist eine Art Manifestation dieser Festspielhaus-Afrika-Idee, produziert mit einheimischen Künstlern in Ouagadougou, die streckenweise autonom agieren, mal rappen, mal tanzen, mal offensiv nach einer Frau suchen. Das wäre ganz in Ordnung, allerdings wäre es auch öde und würde einen rein gar nicht weiter bringen.
Gut aber, dass Schlingensief einer ist, der nicht still sitzen kann. Vor allem: Gut, dass Schlingensief einer ist, der es nicht aushält, dass da Afrikaner auf der Bühne stehen und Sachen machen, die nicht ausschließlich von ihm handeln, von Schlingensief. Also greift er ins Stück ein, also handelt das Stück plötzlich davon, dass Schlingensief bezweifelt, dass sein Engagement in Burkina Faso wirklich das richtige ist. Und wo wir schonmal dabei sind, dreht er diese Zweifelsschraube noch eine Stufe weiter, es geht nicht mehr um Schlingensief, es geht um uns europäische Zuschauer, die Interesse an einem Kontinent heucheln, der uns doch eigentlich am Arsch vorbei geht. Aber, halt, natürlich geht es nicht um uns, es geht um Schlingensief, "Ich, ich, ich!" ruft er und erzählt von seiner Chemotherapie, die mit Ouagadougou nun wirklich rein gar nichts zu tun hat. Ein großartiger Wirrwarr.

Am Ende zieht sich der Künstler zurück aus Afrika. Geld sollen wir schicken, nach Ouagadougou, aber wir sollen dort nichts machen, wir sollen sie in Ruhe am Operndorf arbeiten lassen. Das leuchtet ein, ein ganz einfaches Scheitern, der gute Wille ist am Ende, da ist Schlingensiefs Künstlerfigur ganz nahe an Luigi Nonos Bergarbeiter. Wir werden noch beschimpft, angeschnorrt, dass wir ans Operndorf spenden sollen, dann entlässt uns diese wilde, wirre High-Society-Veranstaltung in die Nacht. Toll.
Aber: eben auch sinnlos. Weil das Thema, Afrika, in dieser Assoziationshölle hoffnungslos zerschreddert worden ist, bleibt nur noch eines im Vordergrund: das persönliche Schicksal des Christoph Schlingensief, problembehaftet, belastet, beschwert. Ich, ich, ich: Womöglich hat er recht, womöglich ist das wirklich das einzige, was man wirklich sagen kann.

Und dann wäre "Via Intolleranza II" natürlich eine entsetzlich nachvollziehbare Bankrotterklärung des Theaters.

Sonntag, 23. Mai 2010

Harz Vier (Gehen)

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Foto: Bernd Völkel

Wandern ist uncool. Wer einmal die Nacht auf einer Berghütte verbracht hat, versteht auch, weswegen: Beim Wandern macht man sich gemein mit unangenehmen, reaktionären, alten Männern, man singt sexistische Lieder, man erhebt sich chauvinistisch über andere, man begrüßt sich am Gipfel mit "Berg Heil!".
Andererseits: Wer einmal eine Reise im Ferienflieger nach Mallorca mitgemacht hat, macht ähnliche Erfahrungen, und dennoch ist ein Urlaub auf Mallorca nicht uncool. Die Erkenntnis hat sich durchgesetzt, dass Mallorca nur in den Tourismusburgen uncool ist, das Hinterland aber ist ein Traum, und den Ferienflieger muss man eben auf sich nehmen, zweieinhalb Stunden lang, um sich direkt nach der Landung von den Uncoolen abzusetzen. Und ebenso ist auch die Berghütte nur Mittel zum Zweck: Da muss man durch, leider. Aber zu tun hat man nichts mit den Sexisten, den Chauvinisten, den Uncoolen, die im Matratzenlager nach Bier stinken, nach Selbstgerechtigkeit und nach tagelang nicht gewechselter Unterwäsche.

Da muss man durch, um später ein Glücksgefühl zu haben. Einen Fuß vor den anderen zu setzen, nicht mehr zu sprechen, irgendwann: nicht mehr zu denken. Über Stunden keinen anderen Menschen mehr zu sehen, durch den Wald, über Wiesen, später dann über bloßen Stein. Sind wir noch auf dem richtigen Weg? Weiter. Gehen.
Es geht nicht um den Gipfel. Achtermann, 926 Meter über Null, ein Witz: Wenn man einem Bergsteiger erzählt, dass man den dritthöchsten Berg Niedersachsens erklommen hat, der lacht einen doch aus. Es geht nicht um Höhenmeter, es geht nicht um schöne Aussichten, es geht auch nicht um irgendeine erbrachte Leistung, einen anstrengenden Aufstieg oder eine spektakuläre Klettereinlage oder einen kulturhistorisch bedeutenden Wanderweg. Es geht nur noch ums: Gehen. Einen Fuß vor den anderen. Einsamkeit. Spüren.

Im Wanderführer zu La Gomera steht, dass man eine Gegend erst dann richtig kennengelernt hat, wenn man sie erwandert hat. Das stimmt. Der Wanderer nimmt den Charakter der Landschaft in sich auf, durch die Muskeln, durch die Fußsohlen. Weil er auf der Wanderung mit der Landschaft alleine ist, mit ihr atmet, mit ihr horcht. Das ist so ähnlich wie mit Städten: Man lernt eine Stadt auch nicht dadurch kennen, dass man eine Stadtrundfahrt im Touristenbus macht. Die Stadt lernt man dadurch kennen, dass man sich in die Straßenbahn setzt und bis zur Endhaltestelle durchfährt. Dass man sich in eine langweilige Kneipe setzt und ein Bier trinkt, und dann noch eines. Dass man durch Wohngebiete schlendert, ohne Ziel.

Das Ziel der Wanderung ist der Wald. Das modrige Holz, die Schneereste auf dem Weg, der Wind, der durch die kahlen Bäume jagt. Das Ziel ist nicht der Achtermann: Auf dem Achtermann warten sie doch schon wieder auf mich. Die Uncoolen.

Aus der Bandschublade

Die Bandschublade war einmal ein Musikblog. Es ging um Bands, die mir einmal wichtig waren. Bands, die ich vergessen habe. Bands, die mir ein bisschen peinlich sind. Bands, zu denen ich grundsätzlich mal etwas sagen wollte. Bands, die ich heute immer noch gerne höre. Die Bandschublade ist heute: Ein Blog über alles und jedes. Ein Blog über Kunst und Kultur. Ein Blog über Politik. Ein Blog über das Leben in der Stadt. Ein Blog über mich und dich und uns. Und auch ein Musikblog, immer noch. Kommentare sind im Rahmen der üblichen Freundlichkeitsgepflogenheiten erwünscht, natürlich.

Der Autor

Falk Schreiber, Kulturredakteur, Hamburg / Kontakt: falk (dot) schreiber (at) gmx (dot) net / Mehr im Web: Xing, Facebook und Myspace

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