Offene Räume

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Leipzig wäre wohl ganz schön, wäre es nicht so unglaublich deutsch. In westdeutschen Großstädten prägt Migration unübersehbar den urbanen Raum, in Leipzig ist das nicht so; muss man sich erstmal dran gewöhnen, und ich glaube nicht, dass mir diese Gewöhnung gefallen würde. Aber ansonsten wäre Leipzig wohl ganz schön, doch.
Das Leipziger Zentrum wird von einem Innenstadtring umfasst, mehrspurige Straßenzüge, Tramlinien, man kennt das von vielen vergleichbar großen Städten, Frankfurt, Dortmund. Innerhalb dieses Rings wirkt die Stadt extrem aufgehübscht, restaurierte Jugendtilfassaden, breite Shoppingzonen, repräsentative Gebäude, die Universität mit dem City-Hochhaus. Genutzt wird dieser Teil der Stadt alledings weitgehend vom bundesrepublikanischen Fußgängerzonendurchschnit, Tchibo, Karstadt, Juwelier Wempe, you name it. Dazu kommen hilflose Versuche, eine urbane Renaissance des Bürgertums herbeizuzitieren, ein Phänomen, das man auch in anderen ostdeutschen Großstädten beobachten kann, im immer mehr zum Berliner Villenvorort mutierenden Potsdam, in Uwe Tellkamps Dresden.

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Und mittendrin die Nikolaikirche. Denkmal der Möchtegern-Revolution, Aufstand gegen den DDR-Muff bei gleichzeitigem Ranwanzen an ausgerechnet die ultramuffige Kirche, habt ihr toll gemacht, Leipziger, 1989. Und uns nebenbei noch zwei weitere Legislaturperioden des korrupten Kohl-Regimes verschafft, Danke auch dafür!

Durch Leipzig zu laufen, frustriert mich.

Wenn man aber den Innenstadtring hinter sich gelassen hat, dann findet man sie noch: Brachflächen, Ruinen, Undefiniertes. Offene Räume. Dann steht man plötzlich vor Orten wie dem Ring-Messehaus, dem Bayrischen Hof, dem Hotel Astoria.

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Da hat Leipzig plötzlich wieder etwas von Berlin-Mitte, bevor die Modelabels kamen, die Schickis und die Cocktailbars. Beziehungsweise: Bevor die Cocktailbars durch die Systemgastronomie abgelöst wurden. Wohlgemerkt: Wir sind hier nicht in Vororten, wir sind gerade mal ein paar Schritte von der Innenstadt entfernt, in direkter Nachbarschaft zum unglaublich luxuriösen, unglaublich überdimensionierten Hauptbahnhof.
Das macht Leipzig wirklich interessant: dass man die offenen Räume ganz deutlich vor Augen hat. Und dass man gleichzeitig weiß, dass diese Räume bedroht sind, dass sie ein störendes Element der Stadtarchitektur in der unmittelbaren Umgebung sind. Man kann sich hier nicht ausruhen in der kaputten Kuschligkeit des Andersseins, weil weite Teile der Innenstadt schon billig aufgehübscht sind. Das war wohl der Fehler in Berlin-Mitte: Man dachte, das ginge immer so weiter mit den offenen Räumen, dass eine Bedrohung da war, nahm man nicht wahr, und als man es merkte, war es zu spät. In Leipzig muss man das wahrnehmen: Der Hauptbahnhof ist unübersehbar.

In Hamburg zeichnet sich eine Lösung fürs Gängeviertel ab (zur Vorgeschichte: hier und hier). Es gibt anscheinend den Willen der Stadt, das Viertel ohne Investor gemeinsam mit den Besetzern zu entwickeln, allerdings ohne die Fäden ganz aus der Hand zu geben. Die Besetzer hingegen pochen auf Selbstverwaltung des Projekts.
Beide Positionen scheinen mir nicht unproblematisch. Weil beide Positionen die Gefahr in sich bergen, aus offenen Räumen geschlossene Räume zu machen. Wer sagt denn, dass sich bei Selbstverwaltung nicht eine Art "Besetzer"-Elite herausbildet, die die Räume nur noch für diejenigen öffnet, die ihnen genehm sind? Was auf lange Sicht einen Inzucht-Charakter zur Folge hätte, die dem Charme des Gängeviertels zuwider läuft. Und auf der anderen Seite: Wenn die Stadt das Viertel entwickelt und die Besetzer nur duldet, dann tritt die Stadt ja quasi als Investor auf. Und wer versichert einem, dass die diesen Job gut macht? Wenn ich mir die kulturpolitische Praxis Hamburgs in den vergangenen Jahrzehnten so anschaue, dann habe ich Zweifel, dass sie dieser Aufgabe gewachsen sein könnte. Große Zweifel.

Stadtkultureller Wildwuchs ist natürlich auch nicht die Lösung. Dann landet man nämlich beim Leipziger Innenstadt-Phänomen, bei Tchibo und Karstadt. De einzige Lösung wäre wohl: Wildwuchs ohne Geld, den Wildwuchs in eine bestimmte Richtung zu lenken. Aber das mit "ohne Geld", das brauche ich in Hamburg wohl nicht zu hoffen.

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Aus der Bandschublade

Die Bandschublade war einmal ein Musikblog. Es ging um Bands, die mir einmal wichtig waren. Bands, die ich vergessen habe. Bands, die mir ein bisschen peinlich sind. Bands, zu denen ich grundsätzlich mal etwas sagen wollte. Bands, die ich heute immer noch gerne höre. Die Bandschublade ist heute: Ein Blog über alles und jedes. Ein Blog über Kunst und Kultur. Ein Blog über Politik. Ein Blog über das Leben in der Stadt. Ein Blog über mich und dich und uns. Und auch ein Musikblog, immer noch. Kommentare sind im Rahmen der üblichen Freundlichkeitsgepflogenheiten erwünscht, natürlich.

Der Autor

Falk Schreiber, Kulturredakteur, Hamburg / Kontakt: falk (dot) schreiber (at) gmx (dot) net / Mehr im Web: Xing, Facebook und Myspace

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